1 Juni 2023 bis 6 August 2023
Die Aufhebung des Dualismus von Exhibitionismus und Voyeurismus
Aktfotografie gehört zu den kompliziertesten künstlerischen Genres; viele Aktbilder sind oberflächlich oder sexistisch, plump oder obszön, sie haben schlicht keinen Esprit, keine Eleganz. Dabei gehört der nackte Körper zu den zentralen Motiven in der Kunst seit der berühmten Venus von Willendorf, die vor etwa 30.000 Jahren von einem unbekannten Künstler oder vielleicht auch als Selbstporträt einer Künstlerin erschaffen wurde.
In der Geschichte der Malerei und ihrer Deutung ist es meist recht eindeutig: Wurde eine Frau – vor Francisco Goyas Maya, also vor 1800 – nackt dargestellt, handelte es sich zumeist um eine mythologische oder religiöse Figur, von der Venus über die Aphrodite, die Grazien und Nymphen zur Lucretia, von Eva bis Susanna. Mit Blick in die Bibel, konkret ins erste Buch Mose wird Nacktheit für die ersten Menschen irgendwann zum Problem – als Adam und Eva nach dem Genuss der verbotenen Frucht erkannten, dass sie nackt waren. Nacktheit wurde so mit einem Tabu belegt. Entsprechend wurden unter dem Einfluss der erstarkenden Kirche die gängigen Darstellungsnormen so verändert, dass die expliziten Partien antiker Skulpturen oder etwa bei Lucas Cranach-Gemälden nachträglich mit applizierten Feigenblättern oder Stoffübermalungen verhüllt wurden. Viele Renaissance-Künstler kehrten etwas später hingegen zum griechisch-antiken Ideal göttlicher Nacktheit zurück, das gilt für die Darstellung männlicher und weiblicher Figuren, in Malerei und Skulptur. Und so tauchte in Renaissance- oder Barockgemälden gelegentlich sogar bei der Muttergottes eine nackte Brust auf, etwa wenn Maria im Begriff war, das Christuskind zu stillen.
In der Fotografie, dem ältesten der neuen künstlerischen Medien, erscheint das Aktbild bereits in der Pionierzeit, also ab 1839. Seitdem haben sich die unterschiedlichsten Spielarten des Aktbildes vor den Kameralinsen entwickelt – realistisch oder abstrakt, inszenierend oder ganz natürlich. Ein Spezialfall des Aktes ist die pornografische Fotografie, die parallel millionenfach entstand und entsteht; aber davon ist hier nicht die Rede. So haben sich die meisten Fotografen und Fotografinnen in der Vergangenheit mit dem Thema Akt beschäftigt, zumindest für ein paar eigene Studien, und auch das Aktzeichnen als Untersuchung der menschlichen Physiognomie wird an vielen Kunsthochschulen bis heute angeboten und praktiziert.
Jens Pepper hat vor über zehn Jahren in Berlin als Autodidakt – nach einer Wette – begonnen, mit einer einfachen Kamera Frauen zu fotografieren, bekleidet und nackt, stets mit einer gewissen erotischen Note. Dem Fotografen geht es in den Akt-Serien, die er für seine Ausstellung in Omaha ausgewählt hat, zunächst um das Genre Porträt, wie er sagt. Die jungen Frauen sind keine professionellen Modelle, sondern mal die Töchter von Freunden und Bekannten, mal spricht er die Frauen im Supermarkt oder anderen Alltagssituationen an und überzeugt sie von der gemeinsamen Arbeit. Denn Fotografie, insbesondere Aktfotografie, ist stets ein Geben und Nehmen zweier Gleichberechtigter, insbesondere wenn kein kommerzielles Interesse damit verbunden ist. Pepper fotografiert seine Modelle im Innenraum, häufig in seiner oder in ihren Wohnungen, in Alltagssituationen, etwa im Raum stehend, auf Sesseln sitzend, auf Sofas liegend, teilweise im Badezimmer. Die Fotografien sind weder professionell ausgeleuchtet noch sind die Hauttöne der Frauen mit Photoshop bearbeitet, selbst die Steckdosen retuschiert Pepper in seinen Bildern nicht weg, alles bleibt visuell auf einer Amateurebene stecken – und doch entwickeln die kleinformatigen Aktaufnahmen nach einer Weile eine besondere Faszination und Authentizität. Die Modelle erscheinen meist unschuldig, aber auch wie Komplizinnen des Fotografen. Denn sie scheinen Spaß am verbotenen Spiel zu haben, an der Entblößung und der damit verbundenen, antizipierten Wirkung auf das Auge des Betrachters oder der Betrachterin der späteren Bilder, wo auch immer sie gezeigt oder publiziert werden. Jeder und jede von uns reagiert auf solche Aktaufnahmen individuell, verstört oder verzaubert. Denn erst in der Rezeption eines Bildes vollendet sich bekanntlich seine implizite Wirkung. Pepper gibt seinen Protagonistinnen genug Raum für eine Selbstinszenierung, er bietet ihnen eine Art Bühne, und sie agieren auf ihr. Die jungen Frauen sind Objekt und Subjekt zugleich, und der Fotograf kommt fast ohne Instruktionen aus.
Jens Pepper war Galerist und arbeitet parallel zu seiner eigenen Fotografie auch als scharfsinniger Fotokritiker, Blogger, Autor und Kurator.
Mario Eugen Wyrwinski experimentiert seit Jahrzehnten mit dem Medium Fotografie, er hat sich auf Polaroid konzentriert, ist auch Polaroid-Sammler, teilweise kauft er große Konvolute, unter anderem in den USA, und archiviert sie. Sein Ziel ist eine Polaroid-Community in Berlin aufzubauen und Workshops zu organisieren. Und so entsteht auch seine Aktfotografie konsequenterweise ausschließlich auf Polaroid, nicht nur auf dem klassischen SX70-Format, sondern auch mit 8×10 und sogar als 20×24 inch Bildformaten, für die es kaum mehr Filme, geschweige denn die Entwicklungschemie zu kaufen gibt. Auch Andy Warhol hat früher neben der SX70 sehr gern mit diesem Großformat gearbeitet, allerdings ist der Entwicklungsprozess sehr aufwendig und kompliziert. Jüngst hat Wyrwinski in Berlin für seine Ausstellung in Omaha einige Akt-Bilder gemacht, mit der einzigen in Europa befindlichen Polaroid-Großbildkamera.
Dafür hat er sich auch von Vera Mercers Fotografie inspirieren lassen, indem er seine Modelle beispielsweise mit Tierköpfen kombinierte. Die Protagonistinnen agieren meist allein – mitunter auch, als seien sie allein mit sich – und scheinen sich doch ihrer Wirkung wohl bewusst. Gelegentlich sind die Frauen über Masken entindividualisiert. Wyrwinskis Kleinserien sind mal Beobachtung, mal Pose. Wir scheinen das zarte Umkreisen und vorsichtige Untersuchen des weiblichen Körpers mit seiner Polaroid-Kamera noch in der Bildbetrachtung zu spüren. Die Intimität – oder vielmehr die Illusion einer Intimität – entsteht hier durch die Motivik einer geradezu taktilen Körperlichkeit. Die Modelle posieren in einem meist undefinierbaren Bildraum, und der Fotograf verrät uns auch nur selten in seinen Bildtiteln etwas über die Aufnahmeorte. Auch ihn interessiert im Körperlichen natürlich das Sinnliche.
Besonders interessant sind seine experimentellen Bearbeitungen mancher SX70-Polaroids während der Filmentwicklung sowie die quadratischen Tableaus, zusammengesetzt aus neun SX70-Polas, die wiederum ein Gesamtbild ergeben. So entstehen spannende tagtraumhafte Inszenierungen.
Der Akt als bedeutendes Genre in der Kunst steht heute glücklicherweise nicht mehr unter einem so hohen Legitimationsdruck wie in früheren Jahrzehnten – zumindest in den aufgeklärten, liberalen Gesellschaften. Umso überraschender und empörender ist der Fall einer Schuldirektorin in Florida, die jüngst ihren Job verlor, als sie Abbildungen von Michelangelos David im Unterricht zeigte. Die Aktskulptur gehört zu den wichtigsten kulturhistorischen Zeugnissen überhaupt – und gehört in jeden Kunstunterricht.
Jedes einzelne Aktbild spiegelt das spannungsvolle Verhältnis von Exhibitionismus und Voyeurismus wider, und wir können für uns entscheiden, in welchen Bereich es mehr ausschlägt. In dieser Ausstellung in Omaha wird der Dualismus geradezu aufgehoben.
Matthias Harder